PHILIPP SCHREINER
„Der Buntstift ist magisch“
Zur abstrakt-expressiven Malerei von Constanze Victoria Thieleke
Es sind die großen Formate und die großen Gesten, die Constanze Victoria Thieleke sucht. Ihre Malereien entstehen durch intensiven körperlichen Einsatz. Ausladende Armbewegungen, energetischer Farbabrieb, mehrmaliges Auf- und Abspannen der Leinwände auf den und wieder vom Keilrahmen, ihr Falten, Aufeinanderlegen, Pressen und Abdrucken sorgen dafür, dass Körperkraft in ihre Malgründe eindringt – und damit viel von ihrer Person selbst. Am Ende dieser sehr aufwendigen Entwicklungsprozesse sind abstrakt-expressive Bildwerke in gedeckten Farben und Erdtönen entstanden. In ihnen hat sich die Künstlerin auch auf kognitiver Ebene ganz und gar dem Medium Malerei, dessen spezifischen Herausforderungen und immanenten Problemen gewidmet. Es gelingt ihr auf eindrückliche Weise, Vorder- und Hintergründe zu verschieben, Räumlichkeit und Tiefe anzudeuten sowie die dazwischen wabernden Spannungen zwischen Chaos und Ordnung zu moderieren.
"Man kann es ernst meinen mit dem Frivolen, frivol mit dem Ernsten":
Susan Sontag in einem fiktiven Gespräch über Anna Neros Bildwelten
Vermutlich ist es die Liebe am Unnatürlichen, die Lust an der Übertreibung, der Spaß am doppelten Sinn, was beide Persönlichkeiten miteinander gemein haben. Die eine schafft, worüber die andere schreibt. Es ist eine gewisse Logik des Geschmacks, der beide Frauen auf der Spur sind oder waren. Was die Künstlerin Anna Nero in ihren frivolen, interpretationsoffenen und ernsthaft-verspielten Malereien und Keramikobjekten mit künstlerisch-originärer Sprache zum Ausdruck bringt, gäbe der Essayistin und Kritikerin Susan Sontag allerhand Motivation, darin eine spezielle Erlebnisweise, einen Intellektualismus, gar einen besonderen ästhetischen Blick auf die Welt zu erkennen.
In allen Farben Grau. Luise von Rohdens farbige Tuschezeichnungen
Farbige Strahlen durchbrechen ein diffuses Grau auf weißem Papier. Linie für Linie von Bildrand zu Bildrand; diagonal von links oben nach rechts unten in grellem Grün, von rechts oben nach links unten in warmleuchtendem Rot, horizontal und vertikal in verschwommenem Violett. Letzteres zeichnet sich nur marginal im dichten Nebel der grauen Felder, den ausgefüllten Rautenformen, die sich zwischen die Gitter aus Linien drängen, ab. Konturiert, auf gewisse Distanz gut sichtbar, flirren die Strahlen aus Rot und Grün über die Bildfläche und konkurrieren um Aufmerksamkeit. So wie beim Blick in die Ferne alles zum Horizont hin bläulich und unscharf erscheint, warme Farben nach vorne und kühlere nach hinten drängen, lassen sich diese ästhetischen Phänomene analog zur Natur auf Luise von Rohdens gezeichneten Blättern nacherleben.
Die Onomatopoesie der Dinglichkeiten
Wenn sich die wuchtige mehrere Meter hohe Tür aus Glas und goldig-glänzendem Metallrahmen geschlossen hat, wenn das Geräusch der kratzig über den Marmorboden schleifenden Borsten unterhalb des Rahmens verklungen ist, wenn sich also das Tor zum Zündkerzen-Hof im Erdgeschoss des MdbKs geschlossen hat, dann, ja dann – pssst! – lassen sich bei aller visuellen Überwältigung, lautmalerische Klänge der bildnerisch-besonderen Art erhaschen. Die Ausstellung Slippery Slope von Anna Nero (geb. 1988 in Moskau) ist nicht nur ein visuelles Feuerwerk übertrieben glänzender Flächen und poppig leuchtender Farben. Denn gleichzeitig dazu erklingt ein onomatopoetisches Konzert – Glitsch! – schmatzend kriechender und – Peng! – bedrohlich knallender Dinglichkeiten.
Eine klimatologische Weltreise:
Masami Saitos organisch-kartografische Übersetzungen des Körperempfindens von Wetterphänomenen
Wetterfühligkeit, damit verbundene Stimmungsschwankungen und, je nach Wetterlage, mal bessere oder schlechtere physische Verfassung sind vermutlich vielen von uns vertraute Erfahrungen. Was aber, wenn die körperliche Reaktion auf unsere Umwelt intensiver und punktueller wahrnehmbar wäre als generelle Abgeschlagenheit oder Kopfschmerz? Die Künstlerin Masami Saito hat ein spezielles Verhältnis zu den klimatischen Bedingungen, denen sie sich ausgesetzt sieht. Sie richtet ihre Wahrnehmung bis tief ins Innere, auf die inneren Organe. Das mitunter heftige Feedback ihres Körpers auf die Wetterverhältnisse hat sie dazu veranlasst, diese Wechselwirkungen zum Thema ihrer Kunst zu werden zu lassen.
Sensible Haltungen zum toxischen Zeitgeschehen:
Götz Sophie Schramms malerische Gegenentwürfe zu gesellschaftlichen Verhaltensphänomen
Winzige Leinwände, quadratisch, bemalt mit buntschimmerndem Lack, reliefartiger Farbauftrag in der Bildmitte; alles nur Untergrund für präzise in Öl verewigte Zuneigung anzeigende Messenger-Sticker in Form von »Umarmenden Haien«, »Lovebirds« und einem »Faultier mit Kissen«1. Es ist viel Liebe, Emotion und Cuteness zu entdecken auf den Bildern von Götz Sophie Schramm. Ihre Motive findet die Maler*in nicht nur im Repertoire der Handy-App Telegram. Die unendlichen Weiten des Internets mit seinen Imageboards, Social-Media-Netzwerken und Suchmaschinen als Gedächtnis für die gesammelten Errungenschaften des menschlichen Daseins beschäftigen die Künstler*in und ihre Malereien seit geraumer Zeit. Und so halten Memes, popkulturelle Verweise aus Musik, Film und Fernsehen sowie Bildzitate aus der Kunstgeschichte Einzug in ihre Werke. Es sind pointiert zusammengefügte Versatzstücke, die sich mit unserem zuweilen toxischen Zeitgeschehen auseinandersetzen. Schramm formuliert darin malerische Gegenentwürfe, anhand derer Hass, Diskriminierung und emotionale Kälte durch Liebe, Respekt und Verbundenheit ersetzt werden sollen.
Rozbeh Asmani und die künstlerische Aneignung enteigneter Allgemeingüter – oder: Wem gehört der Geruch von frisch gemähtem Gras?
Wimbledon ist das größte, wichtigste und gleichzeitig einzige Grand Slam Tennisturnier, das auf Rasen ausgetragen wird. Der englische Rasen ist weltberühmt. Pro Turnier kommen 250 Spielerinnen und Spieler sowie über 54.000 leuchtend-gelbe Tennisbälle damit in Berührung. Ein Team von 35 Groundsmen, die Gärtner von Wimbledon, pflegt und hegt die Tennisplätze das gesamte Jahr über. Für das größte Tennisevent überhaupt, muss der Rasen auf allen Courts die exakte Höhe von acht Millimetern aufweisen, weshalb er an jedem Turniertag um 2 Millimeter gekürzt wird. Somit entsteht jede Menge frisch gemähtes Gras, das seinen Duft über die Arenen verbreiten kann – täglich aufs Neue, zwei Wochen lang. Der Geruch von frisch gemähtem Gras in Verbindung mit Tennisbällen wurde im Jahr 2000 erstmalig beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) als Geruchsmarke eingetragen. Eine niederländische Firma ließ ihre mit Duft versehenen Tennisbälle schützen. Dadurch war „The smell of fresh cut grass“ im Zusammenhang mit der Warengruppe 28 (Tennisbälle) markenrechtlich vergeben.
Ingrid Hartlieb.
Dreifach ist der Schritt der Zeit
Besucht man Ingrid Hartlieb in ihrem Atelier in Haigerloch nahe Tübingen, tritt man in ein Reich aus Holz: Holzpaletten stapeln sich am Boden, Holzplatten lehnen an der Wand, verschiedenste Objekte aus Holz bevölkern die große Halle — offene und geschlossene Formen, Quader, Trichter, Ringe. Einige sind übermannsgroß; wuchtig und gewaltig ragen sie Richtung Hallendecke. Andere sind hüfthoch, tummeln sich in Gruppen, dicht an dicht. Nicht nur sichtbar greift das Holz um sich, sein Geruch liegt in der Luft. Mehr noch, die Werkhalle erscheint als hölzernes Biotop, ihre Wände und Decken heben und senken sich unmerklich mit jedem Atemzug ihrer Bewohner. Zwischendrin steht schweres Gerät, ein Gabelstapler parkt am Rand, ein Hubwagen steht im Weg, Werkzeuge liegen auf massiven Tischen mit Eisengestell.
Manifestationen in Porzellan –
Cosima Göpferts Op-Art-Reliefs
„Die bedeutende handwerkliche und künstlerische Tradition des ‚Weißen Goldes‘ ist ja zu Ende des letzten Jahrhunderts durch die Verführung zur dekorativen Glätte und die kunstgewerbliche Verniedlichung in Verruf geraten, so daß sich bekannte Künstler nicht mehr mit diesem anspruchsvollen Werkstoff eingelassen haben.“ , schrieb Arnold Bode, Begründer der documenta, in dem 1968 erschienen Band zur Ausstellung „ars porcellana. die rosenthal relief reihe“ im Kölnischen Kunstverein. Auf Bodes Anregung hin, entstand ab 1964 eine Reihe von Reliefs in Porzellan, die von den wichtigsten Künstlern jener Zeit gestaltetet wurden, darunter Henry Moore, Lucio Fontana, Victor Vasarely, Günther Uecker und Almir Mavignier. Ohne den Firmeninhaber Philip Rosenthal, der eine ganze Abteilung innerhalb der Produktionsstätten von Rosenthal Porzellan in Selb für die Herstellung der Reliefs bereitstellte, wäre dieses Unterfangen undenkbar gewesen.