PHILIPP SCHREINER
"Man kann es ernst meinen mit dem Frivolen, frivol mit dem Ernsten": Susan Sontag in einem fiktiven Gespräch über Anna Neros Bildwelten
Vermutlich ist es die Liebe am Unnatürlichen, die Lust an der Übertreibung, der Spaß am doppelten Sinn, was beide Persönlichkeiten miteinander gemein haben. Die eine schafft, worüber die andere schreibt. Es ist eine gewisse Logik des Geschmacks, der beide Frauen auf der Spur sind oder waren. Was die Künstlerin Anna Nero in ihren frivolen, interpretationsoffenen und ernsthaft-verspielten Malereien und Keramikobjekten mit künstlerisch-originärer Sprache zum Ausdruck bringt, gäbe der Essayistin und Kritikerin Susan Sontag allerhand Motivation, darin eine spezielle Erlebnisweise, einen Intellektualismus, gar einen besonderen ästhetischen Blick auf die Welt zu erkennen.
Eine mögliche Kategorie, unter der jene Faszination für das Banale, das Theatrale, das Künstliche, das Überzogene, das Naiv-Wirkende und das unfreiwillig Komische greifbar scheint, diese Möglichkeit offeriert der Begriff Camp. Als Susan Sontag 1961 den Essay „Anmerkungen zu Camp“ veröffentlicht, steht sie sich zu Beginn des Textes ein, keine griffige Definition dazu vorlegen zu können. Stattdessen liefert sie Achtundfünfzig Thesen, in denen sie fragmentarisch eine Bestandsaufnahme darüber führt, welche kulturellen und künstlerischen Errungenschaften aus welchen Gründen campy sind und welche nicht.
Ich stelle mir also die Frage, wie würde wohl ein Urteil Sontags in Bezug auf Neros Kunst ausfallen, wenn erstere noch lebte? Hätten beide sogar eine gemeinsame Vorstellung von dem was Camp ist oder sein könnte? Würde Sontag das Attribut campy für Neros Werke überhaupt verwenden? Könnte ein nie geführter, fiktiver Dialog zwischen mir, einem Kunsthistoriker, und der verstorbenen Kritikerin Susan Sontag ein probates Mittel sein, um Antworten auf diese Fragen zu erhalten? Einen Versuch ist es wert …
Das folgende Gespräch beinhaltet direkte Zitate von Susan Sontag, die ich ihrem Text „Anmerkungen zu Camp“ frei entnommen, neu kombiniert oder um einzelne Wörter und Wortgruppen ergänzt habe. Diese Fragmente habe ich so arrangiert, dass sie Bezug auf von mir geschriebene Kommentare zu Anna Neros Malereien und Keramiken nehmen, auch wenn sie niemals in einem solchen Sinnzusammenhang formuliert worden sind. Alle Aussagen über Neros Arbeiten basieren auf gemalten, geformten, gesagten und ungesagten Tatsachen (1).
Anna Nero, Pill Hill, 180 x 130 cm, oil and acrylic on canvas, 2020.
Philipp Schreiner: Anna Neros Werk besticht durch klare Kanten, streng formale Ordnung, konterkariert durch eine abstrakt-gegenständliche Bildsprache. In Hard-Edge-Technik, also mit abgeklebten und anschließend eingefärbten Flächen, entstehen Gitter, Liniensysteme und Strukturen. Darauf platziert sie glatt-gelutschte, hoch-stilisierte Dinglichkeiten. Pointiert gesetzte Pinselstriche in pastosem Farbauftrag und derbem Duktus erinnern regelmäßig daran, dass es gemalte Bildräume sind, in deren Bann man sich gerade befindet. Werktitel wie „Hormonloch“, „Plumbus“, „Jetlag (mit Happy End)“, „Forbidden Fruit“ oder „Dickey“ erzählen Geschichten die sich irgendwo zwischen dem Kinderzimmer einer Manga-Liebhaberin, der Attitüde einer sexpositiven Feministin und dem leicht melancholischen Tagtraum einer strenggläubigen Jüdin während des Tischgebets abspielen. Inhalte politisch motivierter, gesellschaftskritischer oder moralischer Art sucht man vergebens. Es dominiert das Kunstmäßige, der ausgeprägte Sinn für die Oberfläche, für Stofflichkeit und Materialität. Kann das Camp sein, Susan Sontag?
Susan Sontag: Es versteht sich von selbst, dass die Erlebnisweise des Camp unengagiert, entpolitisiert – oder zumindest unpolitisch – ist. Camp-Geschmack neigt bestimmten Kunstgattungen mehr zu als anderen. Kleider, Möbel, alle Elemente des visuellen Dekors zum Beispiel machen einen großen Teil des Camp aus. Denn Camp-Kunst ist häufig dekorative Kunst, die die Struktur, die von den Sinnen wahrgenommene Oberfläche, den Stil auf Kosten des Inhalts betont. Wichtig ist: Es gibt nicht nur die eine Camp-Sehweise, eine Art, die Dinge zu betrachten, die Camp ist. Aber nicht alles kann als Camp gesehen werden. Nicht alles liegt in der Macht des Betrachtenden.
PhS: Die Lesart ihrer Kunst bestimmt Anna Nero oft selbst. Sie scheint stets darauf bedacht, die Rezeption ihrer Person in eigens gewählte Bahnen zu lenken. In Interviews liest man daher oft, dass in ihren Bildern Banalitäten, wie Hunger, Unlust oder Sex verhandelt werden. Auch der unliebsame Professor aus Leipzig wird nie vergessen, gegen dessen Vorbehalte sie sich behaupten musste. Sie hat sich davon nicht beirren lassen, ist ihren eigenen Weg gegangen. Das versucht die Künstlerin – allen Zweiflern zum Trotz – in den Köpfen ihrer Fans zu verankern. Der Mythos des Künstler-Genies und der Muse, die ihn küsst, ist lange überholt. Nero weiß das, auch weil sie sich in der Kunstgeschichte ebenso gut auskennt wie in der Gegenwartskunst. Selbstinszenierung, Deutungshoheit und Wiedererkennbarkeit sind wichtig für die Karriere und das persönliche Verständnis als Künstlerin, vor allem um sich in dieser Welt behaupten zu können. Sie setzt sich durch, ohne Verbissenheit, aber dafür mit der notwendigen Leidenschaft und Ernsthaftigkeit. Wie passt das zum verspielten Charakter von Camp?
SuSo: Ein wenig zugespitzt formuliert ließe sich sagen: Camp ist entweder völlig naiv oder durch und durch bewusst. Wovon wir reden, ist der Versuch, etwas Außergewöhnliches zu tun. Dazu braucht es die Kraft der Persönlichkeit. Bei aller Lust an der Übertreibung, Ironie, Verspieltheit, gibt es freilich Ernsthaftigkeit im Camp. Tatsächlich aber nur eine solche, die im Grad des Engagements des Künstlers ihren Ausdruck findet. Wenn etwas einfach schlecht (statt Camp) ist, so oft deshalb, weil nicht genug Ehrgeiz in ihm steckt. Ohne Leidenschaft entsteht Pseudo-Camp – dekorativ, risikolos, mit einem Wort chic. Letztlich liegt der ganze Sinn des Camp in der Entthronung des Ernstes. Camp ist spielerisch, anti-seriös.
PhS: Anna Nero hat mir einmal gesagt, dass Sie sich erst sehr spät, am Ende ihres Studiums etwa, eingestehen konnte, dass ihre Arbeit ironisch, poppig und gewissermaßen banal ist. Wenn man jünger ist, nimmt man alles sehr ernst und will sehr ernst genommen werden. Mittlerweile hat sie ein gutes Verhältnis zu Deko, Kitsch und Pop. Sie hat es geschafft die eigenen Ressentiments diesen Themen gegenüber abzulegen und das Kitschige, das Poppige in ihrer Arbeit anzunehmen. Ist das eine Entwicklung, die wir durchmachen müssen, um Camp zu sein oder zu verstehen?
SuSo: Wenn man die Welt konsequent ästhetisch erfahren will, dann nur durch eine neue, komplexere Beziehung zum „Ernsthaften“. Man kann es ernst meinen mit dem Frivolen, frivol mit dem Ernsten.
PhS: An Frivolität mangelt es dem Werk Anna Neros nicht. Es besticht geradezu durch schlüpfrig und mehrdeutig anmutende Bildelemente. Immer wieder tauchen Objekte auf, deren Form an Sexspielzeuge, Geschlechtsteile oder obszöne Gesten erinnern. Dabei findet sie jedoch stets eine Ausdrucksweise, die nicht plakativ oder billig daherkommt, sondern unprätentiös und doppeldeutig wirkt. Ich denke dabei zum Beispiel an die Arbeit „Peach“ (2019). Der Titel lässt ahnen, dass es sich um einen Pfirsich handelt. Durch die zusätzlichen metallisch aussehenden Objekte muss ich aber eher an gepiercte Pobacken und einen Anal-Plug denken. Auf dem Bild „Forbidden fruit“ baumelt entweder ein rotes Herz an einem schwarzen Ast oder ein Paar knallrote Hoden. Diese Ambiguität bringt mich oft zum Schmunzeln.
SuSo: lacht. Der Liebhaber des Camp, schätzt das Vulgäre.
Anna Nero, Jet Lag (with Happy End), 40 x 30 cm, oil, acrylic and marker on canvas, 2019.
Anna Nero, Plumbus, glazed ceramic, 20 x 10 x 10 cm, 2018.
PhS: Also sehen Sie es auch?
SuSo: Ja, natürlich sehe ich es auch. Camp sieht alles in Anführungsstrichen: nicht eine Lampe, sondern eine „Lampe“; oder, wie in diesem Fall, nicht ein Pfirsich, sondern ein „Pfirsich“. Witz und Ironie sind ein wichtiger Bestandteil für Camp. Allen Gegenständen und Personen, die Camp sind, ist ein starkes Element des Trickhaften eigen. Deshalb kann nichts in der Natur campy sein. Weil Natur nicht übertrieben ist, zumindest nicht in einem „alles-ist-was-es-nicht-ist“-Sinn. Der Camp-Geschmack tilgt die Natur aus oder steht in offenem Widerspruch zu ihr.
PhS: Das ist eine wichtige Erkenntnis, die ich beim Betrachten von Neros Gemälden und Keramiken gewonnen habe: die Natur hat darin keinen Platz beziehungsweise kommt sie darin einfach nicht vor. Alles ist künstlich, artifiziell, fantastisch oder zumindest fremdartig, wie aus einer anderen Welt.
SuSo: Deshalb spreche ich auch davon, dass Camp eine Verführungsmethode darstellt, die grelle Manierismen anwendet, die eine doppelte Deutung zulassen, doppeldeutige Gesten mit einem geistreichen Sinn für den Kenner und einem andern, unpersönlichen, für den Außenstehenden.
PhS: Sich im Zeitgeschehen, oder eher im popkulturellen Zeitgeschehen bestens auszukennen, ist tatsächlich notwendig, wenn man Anna Neros Bildsprache besser verstehen möchte. Betrachten wir einmal Neros rosa Keramikfigur „Plumbus“ (2018). Wo der Kenner hinter dem knäuelartigen Gebilde, mit kugelförmigen Auswüchsen den Floob sieht und im Korpus den Grumbo vermutet, an dem das Dingle Bop baumelt und das Chumble sitzt, dort sieht der Unwissende lediglich eine Aubergine mit allerlei wurmartigen Fortsetzen und Bommelhut. Dabei ist ein Plumbus das meistverkaufte Haushaltsgerät im Multiversum der Trickfilmserie „Rick & Morty“.
SuSo: Die Serie kenne ich natürlich nicht. Dennoch verstehe ich, worauf Sie hinauswollen. So ist es eben mit Camp, es ist zwar anti-elitär, aber nicht für jedermann. Es benötigt ein gewisses Verständnis.
PhS: Ähnlich verhält es sich mit Neros Malereien, sie besitzen einfach diesen schwer benennbaren zeitgenössischen Ausdruck malerischer Bildlichkeit.
SuSo: Lassen Sie mich das abschließen: Man muss verstehen, Camp ist eine Art unter anderen, die Welt als ein ästhetisches Phänomen zu betrachten. Eine Erlebnisweise (im Gegensatz zur Idee) gehört zu den Dingen, über die sich am schwersten reden lässt. Camp ist eine Art Geheimcode, ein Erkennungszeichen kleiner urbaner Gruppen. Wie ich bereits angedeutet habe: Camp ist absolute Zeitgenossenschaft.
Resümierend erweisen sich die Auseinandersetzung mit Susan Sontags mittlerweile 60 Jahre altem Aufsatz und der Gedanke, Anna Neros Malereien und Keramiken mit Camp zu umschreiben, als genauso treffend wie ungenügend. Treffend deshalb, weil sich Neros Bildsprache offensichtlich viele Adjektive mit dem teilt, was gemeinhin als Camp verstanden wird: pittoresk, erregend, unprätentiös, vulgär, extravagant. Ungenügend vermag der Vergleich dennoch sein, weil die Kategorie Camp – wenn man es so bezeichnen möchte –, sich selbst jeglicher einschlägigen Definition entzieht und nur schwer greifbar ist. Dementgegen lassen geläufigere Strömungen, wie Konstruktivismus, Konkrete Kunst oder Pop-Art, die man ebenso auf Neros Arbeiten anwenden könnte, einfacher Bilder im Kopf davon entstehen, wie die dazugehörige Kunst aussieht. Das Problem: In keine dieser Schubladen passt Anna Neros Ästhetik hinein. Sie deshalb in die Schublade CAMP zu stecken, wird ihr vermutlich ebenso wenig in umfassender Form gerecht. Aber ich glaube, – bei aller Unzulänglichkeit dieser kategorischen Zuschreibung – darin finden ihre Arbeiten den größten Platz und Raum, um sie selbst zu sein.