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„Der Buntstift ist magisch“
Zur abstrakt-expressiven Malerei von Constanze Victoria Thieleke

Es sind die großen Formate und die großen Gesten, die Constanze Victoria Thieleke sucht. Ihre Malereien entstehen durch intensiven körperlichen Einsatz. Ausladende Armbewegungen, energetischer Farbabrieb, mehrmaliges Auf- und Abspannen der Leinwände auf den und wieder vom Keilrahmen, ihr Falten, Aufeinanderlegen, Pressen und Abdrucken sorgen dafür, dass Körperkraft in ihre Malgründe eindringt – und damit viel von ihrer Person selbst. Am Ende dieser sehr aufwendigen Entwicklungsprozesse sind abstrakt-expressive Bildwerke in gedeckten Farben und Erdtönen entstanden. In ihnen hat sich die Künstlerin auch auf kognitiver Ebene ganz und gar dem Medium Malerei, dessen spezifischen Herausforderungen und immanenten Problemen gewidmet. Es gelingt ihr auf eindrückliche Weise, Vorder- und Hintergründe zu verschieben, Räumlichkeit und Tiefe anzudeuten sowie die dazwischen wabernden Spannungen zwischen Chaos und Ordnung zu moderieren. Dabei erzeugt die Künstlerin einen äußerst lebendigen Duktus und eine faszinierende Bildraumdynamik, die den Blick der Betrachtenden einfängt, ihn lenkt und letztlich in schwungvolle Bewegungsmuster und vibrierende Aktionsflächen entführt.

Parallel zum großformatigen Tafelbild widmet sich Constanze Thieleke aber auch kleineren Formaten sowohl auf Papier als auch in reliefartigen Collagen und Assemblagen aus Schaumgummi, Kunststoff und Salzteig. Sie besitzen einen eigenständigen und abgeschlossenen Werkcharakter. Das Ringen der Künstlerin um die Ausgewogenheit der Komposition und das Bändigen der Werkstoffe und Materialien mündet auch hier in spannungsgeladener Harmonie, unkonventionellen Kompositionen und individueller, aber wiedererkennbarer Rhythmisierung der Bildträger beziehungsweise der Objekte.

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Ausstellungsansicht Galerie Waidspeicher (Kunstmuseen Erfurt), 2023. Foto: dotgain

Von Mensch und Natur

Ihre künstlerische Ausbildung hat Constanze Thieleke an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle begonnen. Von 2016 bis 2020 studierte sie dort Malerei, verließ die Malereiklasse jedoch, als sich deren inhaltliche Konzeption mehr und mehr in Richtung Figuration verschob. Ihr Weg führte sie an die Kunstakademie Düsseldorf, wo sie von 2020 bis 2022 bei Prof. Andreas Schulze Malerei studierte und 2023 als dessen Meisterschülerin ihre Ausbildung beendete.

Waren es während des Studiums in Halle noch Aufenthalte im Anatomiehörsaal, wo Thieleke Obduktionen des menschlichen Körpers mitverfolgte, die zu ihren Bildfindungen beitrugen (Werkreihen Nach Innen, 2018–2019 und Von Außen, 2017–2019), entwickelten sich in Düsseldorf andere Themen zu Inspirationsquellen ihrer Arbeit. Mehr und mehr fesseln die Künstlerin die eigenen Empfindungen und Beobachtungen im Alltag und in ihrer Umwelt: Die Komplexität und Fruchtbarkeit von Naturphänomenen wie das Wippen der Grashalme im Wind oder die Raffinesse eines Muschelscharniers liefern den Anlass für ihre abstrakten Sujets. Und mitten im Gespräch über ihre veränderte Arbeitsweise und die in Düsseldorf entstandenen Werke macht sie – während wir selbstgebackenen Aprikosenkuchen essen und  sie mir eine Schachtel eigens gesammelter Pflanzensamen zeigt – eine bemerkenswerte Aussage: „Der Buntstift ist magisch.“ Ihre Augen strahlen, wenn die Künstlerin fasziniert und gleichzeitig immer wieder staunend über die von ihr eingesetzten bildnerischen Mittel und deren Wirkung spricht: also etwa über das Schimmern und Glänzen des Abriebs der kraftvoll aufgetragenen Buntstiftfarbe, die die Leinwand lebendig werden lässt.

Das Zeichnen mit Buntstift ist aber nur eine von vielen Techniken, in denen Constanze Thieleke arbeitet. Wie eingangs erwähnt, sind ihre Werke gleichzeitig Zeugnisse ihres leidenschaftlichen Körper- und Materialeinsatzes. Eine technische Besonderheit, die sie seit 2022 – also noch während ihrer Zeit an der Kunstakademie Düsseldorf – erprobte, bringt das Kreuz des Keilrahmens als Ordnung schaffende Struktur auf die Bildoberfläche. Dieser Effekt entsteht beim Grundieren des von ihr verwendeten groben Leinengewebes. Das Grundierweiß tüncht den Malgrund komplett durch. An den Stellen, an denen sich das darunter liegende Holzkreuz befindet, verstärkt sie den Druck beim Auftragen, sodass sich die Kontur der Streben abzeichnet. Anschließend wird das Leinen in noch nassem Zustand abgezogen, umgedreht und erneut aufgespannt. So wird die einstige Rückseite zur Vorderseite und die Vorderseite zur Rückseite. Die nun in verschiedene Rechtecke gegliederte Fläche avanciert zur Spielwiese von Buntstiften, Bleistiften und Ölkreiden.

Die abstrakte Formensprache findet aber auch über klassische Ölfarben Einzug in Thielekes Kompositionen. Verdünnt mit Leinöl, gießt sie dicke Kleckse Farbe auf die flach auf dem Boden liegende Leinwand. Nachdem sie diese mittig zusammengeklappt hat, rollt sie sich mit ihrem ganzen Körper darüber. Das Aufklappen offenbart eine auf beiden Bildhälften gespiegelte Form – auch bekannt als Rorschach-Effekt.

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Ausstellungsansicht Galerie Waidspeicher (Kunstmuseen Erfurt), 2023. Foto: dotgain

Vom Jagen und Sammeln

Ein Werk, das viele der hier beschriebenen malerischen Besonderheiten vereint, ist die Arbeit Vom Jagen und Sammeln, 2022. Der Titel thematisiert gleichzeitig den Prozess ihrer Bildfindung: Jagen und Sammeln bezieht sich nämlich nicht auf soziokulturelle Aussagen zur Lebenssicherung in der frühen Menschheitsgeschichte, sondern auf die unmittelbare Gegenwart. Menschen jagen und sammeln im Laufe ihres Lebens Herzen. Das geschieht heutzutage nicht mehr nur im sogenannten real life, also im wahren Leben, sondern immer häufiger digital. Menschliche Herausforderungen wie die Partnersuche und soziale Beziehungen veranlassen die Malerin hier nicht nur dazu, zu Pinsel und Farben zu greifen, sondern Polymerverbindungen anzurühren und Formen sprechen zu lassen: Aus Glasfaserwolle und Polyesterharz gefertigt, arrangiert sie ihre Objekte Plastic Hearts I – IV, 2022 in einer Größe von jeweils 100 mal 100 Zentimeter auf dem Boden vor ihrer Malerei. Ein Stapel verschiedenfarbiger Plastikherzen in Orange, Weiß, Zartrosa und Blutrot türmt sich davor auf – und steht exemplarisch für gesammelte und zuvor gejagte Herzen?!

 

Ob körperlicher oder kognitiver Schaffensprozess, ob Buntstift oder Ölfarbe, Tafelbild oder Kunstharz, das Herz-Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch das noch junge Œuvre der Malerin. Nur der Abstraktionsgrad hat sich von den Zeichnungen echter menschlicher Herzen zu den stilisierten Herzen aus Plastik deutlich verändert. Es ist fast unmöglich, an der Form vorbeizukommen, sie ist kaum wegzudenken aus unseren Leben. Auch die digitale Kommunikation ist von ihr geprägt. Mit der Kombination zweier simpler Zeichen fing alles an: <3. Später wurden daraus Emojis mit Herzen, animierte Herzen, Herzen in allen möglichen Farben und Abwandlungen. Mittlerweile lassen sich Herzen in der Online-Welt in Hülle und Fülle vergeben und natürlich auch sammeln. Ein Daumenwisch nach links: kein Herz; ein Daumenwisch nach rechts: Herz. So lautet die simple Auswahllogik auf Dating-Apps. Es scheint daher nur konsequent, wenn die Künstlerin fragt: Wie sieht dein Herz aus? – und dabei offenlässt, ob die Frage digitaler oder analoger Neugierde entspringt.

Ausstellungsansicht Galerie Waidspeicher (Kunstmuseen Erfurt), 2023. Foto: dotgain

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