PHILIPP SCHREINER
Eine klimatologische Weltreise.
Masami Saitos organisch-kartografische Übersetzungen des Körperempfindens von Wetterphänomenen
Wetterfühligkeit, damit verbundene Stimmungsschwankungen und, je nach Wetterlage, mal bessere oder schlechtere physische Verfassung sind vermutlich vielen von uns vertraute Erfahrungen. Was aber, wenn die körperliche Reaktion auf unsere Umwelt intensiver und punktueller wahrnehmbar wäre als generelle Abgeschlagenheit oder Kopfschmerz? Die Künstlerin Masami Saito hat ein spezielles Verhältnis zu den klimatischen Bedingungen, denen sie sich ausgesetzt sieht. Sie richtet ihre Wahrnehmung bis tief ins Innere, auf die inneren Organe. Das mitunter heftige Feedback ihres Körpers auf die Wetterverhältnisse hat sie dazu veranlasst, diese Wechselwirkungen zum Thema ihrer Kunst zu werden zu lassen.
Mit ihren Arbeiten versucht Masami Saito, jene körperlichen Erfahrungen zu visualisieren, die sie an bestimmten Orten der Welt empfindet. Ein Credo, das sie all diesem Tun zu Grunde legt, lautet: (Ihre) Organe besitzen ein eigenes Bewusstsein für die Außenwelt. Im Rahmen des Landesstipendiums für Bildende Kunst Thüringen 2020 entwickelte sie organisch-landschaftliche Installationen und Einzelobjekte zur Veranschaulichung ihrer Erlebnisweise. Deren Werkgenese und Präsentation zeugt von einer introspektiven Auseinandersetzung und deren Verarbeitung, bezogen auf verschiedene Aufenthaltsorte und Lebensabschnitte. Die Künstlerin führt uns mit spezifischen Werkgruppen den Zusammenhang zwischen ihren Beobachtungen an sich selbst unter dem Einfluss der klimatischen Verhältnisse in Japan, Deutschland und Spanien vor Augen. Eng daran geknüpft ist die Art der Werkstoffe, die sie auswählt, um ihre Empfindungen im Körperinneren in sinnlich erfahrbare, äußere Zustände zu übersetzen. In Materialität und Form appellieren die so entstehenden Kunstwerke an unsere eigene Körperwahrnehmung, Imagination und unser taktiles Erinnerungsvermögen. Detailgetreu ausgearbeitete Objekte aus verschiedenen Materialien werden zur Projektionsfläche für gefühlte Eindrücke und körperliche Veränderungen.

Installationsansicht "Drought in his eyes, water in mye shoes" von Masami Saito, Kunstmuseen Erfurt 2021.
37° 46′ N, 140° 28′ O
In den Regionen Japans, wo Masami Saito aufwuchs und lange Zeit lebte, ist es das ganze Jahr über deutlich wärmer als in Deutschland und Mitteleuropa. Im Jahresdurchschnitt beträgt die Temperatur dort 15,9 °C. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt 1193 mm. In ihrer Bewerbung für das Landesstipendium schreibt die Künstlerin:
In der Regenzeit zwischen Juni und Juli ist das gesamte Land von feuchter Luft eingehüllt und die Sicht ist stets durch den Regen getrübt. Die hohe Luftfeuchtigkeit führt zu Schwierigkeiten beim Atmen. Die Pflanzen hingegen regt der Regen zu sehr kräftigem Wachstum an, und so scheint die Natur die Menschenwelt zu übertreffen. Ich fühle mich dann, als ob mein Körper vom Regen und vom Grün durchdrungen wäre.
Diesen poetischen Erinnerungen folgend, versieht die Künstlerin Arbeiten, die sich auf ihre Zeit in Japan beziehen, mit Titeln wie „Ertrunkener“ oder „Eingeweicht in der Regenzeit“. Letzteres Werk besteht aus dicken, nahezu transparenten Wülsten aus Acryl, die wellenförmig dicht aneinandergesetzt, auf ein graues Stahlblech in der Form eines Magens aufgebracht sind. Ein waberndes Konstrukt in liquide und durchnässt anmutender Erscheinung. Eine andere Arbeit trägt den Titel „Zedernwald“. Das entfernt an einen Baumstamm oder einen Teil vom Darm erinnernde 60 cm kleine Objekt entpuppt sich als ebenfalls gallertartig und aufgeweicht. In diesem Fall bedingt durch seine Materialität aus Latex. Auf dieser hautartigen Hülle befindet sich eine Schicht Papier. Abdrücke der Rinde eines Zedernbaumes sind mittels Frottage-Technik darauf abgerieben worden. Die japanischen Inseln sind überzogen von Zedernwäldern. Nach dem zweiten Weltkrieg wuchs der Baumbestand an Zedern, auch bekannt als Sicheltannen, (aus heutiger Sicht) dramatisch an. Grund dafür war die enorme Abholzung der alten Mischwälder, um die Kriegsmaschinerie hochzufahren. Nach 1945, als der Krieg verloren und die Wälder kahl waren, legte die Regierung fest, ausschließlich Zedern für die Wiederbewaldung zu verwenden, da diese äußerst schnell wachsen und sich gegenüber dem dauerfeuchten Klima als besonders resistent erwiesen haben. Heutzutage sind die Waldbestände in Japan wieder üppig, 67 Prozent des Landes sind von Wald bedeckt. Aber viele Menschen leiden unter den Folgen der vorherrschenden Monokultur, vor allem im Frühjahr, wenn die Pollenflugzeit anbricht. Dann sättigen die zahllosen Zedern die Luft mit ihren Pollen in einem so drastischen Ausmaß, dass Allergiker:innen wie Masami Saito es vorziehen, das Land zu verlassen.

Masami Saito, Eingeweicht in der Regenzeit, 2020,
Acryl, Stahlblech, 40 x 27 x 1,5 cm.
50° 59′ N, 11° 2′ O
Hierzulande leiden Menschen mit Heuschnupfen und Pollenallergie zwar ebenfalls unter den Feinstäuben der Natur, im Vergleich zu Japan fühlt es sich in Deutschland für Masami Saito aber eher wie Erholung an. Weshalb sie sich – vornehmlich im Frühling – äußerst gern in Deutschland aufhält. Wenn da nur nicht die anderen Jahreszeiten wären: Im Winter zu kalt, im Sommer mitunter drückend heiß. Unter den jahreszeitlichen Klimaschwankungen fühlt sich die Japanerin nicht unbedingt wohl. Zu groß sind die Unterschiede zu ihrem Heimatland. Die Jahresdurchschnitts-temperatur in Deutschland liegt bei 10,4 °C, also 5,5 °C unter der in Japan. Ihrem aus Spanien stammenden Mann ist es hier ebenfalls zu kalt, besonders im Winter. „Man bräuchte Haare auf den Organen, um in Deutschland nicht zu frieren“, soll er einmal treffend formuliert haben. Davon inspiriert, entwickelte Masami Saito als künstlerischen Kommentar auf die winterliche Kälte die Werke „Winter-Magen I und II“ sowie „Winter-Nieren“. Für die sorgfältig ausgeformten Abbilder von Organen nutzt sie Latex; über die „nackten“ Organe klebt sie eine schützende Schicht aus Kunstfell – auf dass sie nicht frieren mögen.
Bereits seit 2012 lebt die Künstlerin in Deutschland. Über die Stationen Stuttgart und Weimar kam sie schließlich nach Erfurt. In Stuttgart studierte sie vier Jahre lang Bildende Kunst an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste. Ihr Diplom im Fachbereich Freie Kunst erhielt sie drei Jahre später, im Jahr 2019, an der Bauhaus-Universität Weimar. Masami Saito hat also schon vielen, für ihr Empfinden viel zu kalten, mitteleuropäischen Wintern getrotzt und richtet sich in Erfurt immer mehr ein. Gerade hat sie ein neues Atelier im Kreativquartier „Saline 34“ bezogen. Ein kleiner Holzpellet-Ofen sorgt für etwas Wärme in dem nur teilsanierten Haus.
Wenn es draußen bitterkalt ist, benutzt man in Japan die Redewendung, „Die Kälte sticht durch die Haut“. Für die gleichnamige Installation platziert Masami Saito „gefrorene Organe“ inmitten einer abstrakten Wetterkarte. Eine dünne Folie ist mit dicken schwarzen Pinselstrichen überzogen, die nicht nur an darmähnliche Strukturen erinnern, sondern gleichzeitig auf die menschliche Haut unter dem Einfluss eines Tiefdruckgebietes verweisen. Die raumgreifende Arbeit ist eine freie malerische Komposition als Reminiszenz an die hiesigen Winter. Wie gut, dass sie in der kalten Jahreszeit unkompliziert nach Japan oder Spanien zur Familie reisen könnte, um in anderen Gefilden aufzutauen – und um das Winterfell auf den Organen wieder abzulegen.
Masami Saito, Winter-Magen II, 2020,
Latex, Kunstpelz, 40 x 36 x 6 cm.

40° 39′ N, 4° 42′ W
Das Klischee vom Sommer in Spanien steht in erster Linie für mediterranes Essen, Strand und Sonnenschein. Masami Saito verbindet damit eher Trockenheit und Schleimentwicklung. Das Wetter dort, genauer gesagt, die in Zentralspanien herrschende Hitze in Kombination mit der ausgedörrten Landschaft, spürt die Künstlerin nachhaltig in Nase und Nasenschleimhäuten. Es sorgt bei ihr für die vermehrte Bildung von dickeren Körpersekreten im Hals-Nasen-Rachen Bereich als dies für sie üblich wäre. Unverkennbar in Szene gesetzt hat sie dieses Phänomen in der Installation mit dem selbstironischen Titel „Die Tiefe der Rohre“. Vor einem 180 mal 120 cm großen Foto, das die karge und trockene Felsenlandschaft in der Nähe des Ortes Ávila zeigt, baumelt ein Gipsabdruck ihrer Nase. Zwei Plastikschläuche münden in einem länglichen Stück aus glibberigem Silikon. Es ist ein Spiegelbild der mangelnden Feuchtigkeit in der Luft und Landschaft Spaniens. Die veränderte Schleimbildung im Körper der Künstlerin ist sowohl eine direkte Reaktion darauf als auch eine Reflektion des Gefühls, vom Klima der Region stark beeinflusst zu werden.
Ihrer Vorstellung nach, nimmt jedes Körperteil die Außenwelt auf seine eigene Art und Weise wahr. In der großflächigen Bodenarbeit „Dur-ch-d-rin-gen, He-r-um-kr-i-ec-hen“ reflektiert Masami Saito dieses Durchdrungensein von Trockenheit unter Zurschaustellung weiterer für sie spürbar betroffener Organe. Ein vielteiliges System aus geschwungenen Stahlblechplatten windet sich, auf schwarzen Stelzen stehend, über den Fußboden. Auf den einzelnen Formen findet sich allerlei Organisches, kombiniert mit Verweisen auf die spanische Flora. So liegen unter transparenten Hohlraumkörpern in Form von Organen Fotos der Landschaft, Steine oder getrocknete Büschel wilden Thymians, den sie aus Spanien mitbrachte. Frei assoziierend arrangiert sie eine Milz neben einem Paar Lungenflügel oder ein Stück Muskelgewebe samt Arterien neben einem Magen. Die Transparenz der Plastik-Organe gibt dabei immer einen Blick auf die felsigen Strukturen der darunter liegenden Landschaftsbilder oder auf die der Natur entnommenen Objets trouvé preis.
Über die gesamte Ausstellung hinweg offenbart uns Masami Saito ihr Innerstes und nimmt uns dabei mit auf eine Reise durch unterschiedliche Klimazonen. Zugleich präsentiert sie uns, nicht auf wissenschaftliche, sondern höchst subjektive und anschauliche Weise, ihr ganz persönliches klimatologisches Weltbild. Sie beschreibt die in ihrer Kunst geformten Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt als „einen Spiegel der Außenwelt auf der Oberfläche des Körpers“. Was wir beim Umwandern ihrer vielgestaltigen Installationen und haptisch reizvollen Gebilde betrachten, ist nicht weniger als die räumlich gewordene, organisch-kartografische und zugleich poetisch-metaphorische Übersetzung verschiedener Körperempfindungen unter dem Einfluss von Umweltphänomenen. Letztere mögen dem inneren Erleben wie etwas Äußerliches, dem Eigenen wie etwas Fremdes erscheinen. Die Künstlerin erinnert uns jedoch daran, dass beide Seiten stets einen unlösbaren, ökologisch-interagierenden Zusammenhang bilden.
Fußnoten
1 - https://de.climate-data.org/asien/japan/fukushima/fukushima-5396/ [Stand: 17.3.2021]
2 - Vgl. Wyss, Oswald: Forst und Holzwirtschaftsfragen in Japan, in: European Journal of Wood and Wood Products. Holz als Roh- und Werkstoff 11, München 1953, S. 169–173.
3 - Wenn nicht gerade ein Virus die gesamte Welt in Atem hält.